Frühere Filmvorführungen

Thema - Räume

In einem Alltagsverständnis haben auch wir Menschen des 21. Jahrhunderts eine naive, „absolute“ Raumauffassung, d.h. der Raum ist für uns nur eine unhinterfragte Randbedingung des Inhaltes, den er umfasst. Doch schon die philosophische Phänomenologie analysiert Formen des Erlebens von „Raum“. Was macht dieses Thema für eine Filmbetrachtung interessant? Was zunächst banal erscheint, dass sich im Film meist Personen durch Räume bewegen, sich darin treffen, Umgebungen unterschiedlich erleben und auf sie reagieren, erweist sich in den Filmen dieser Reihe als in besonderer Weise mit Bedeutung aufgeladen. Der vorgeführte Raum ist hier eine Bedingung für die Entwicklungen der Filmfiguren, Ausdruck einer psychischen Verfassung oder Metapher für einen Seelenzustand. Räume können z.B. Geborgenheit vermitteln, versprechen, repräsentieren - oder für Verlorenheit, Vergeblichkeit und Bedrängnis stehen. Die enge Verbindung, das Abbildungsverhältnis und die wechselseitige Beeinflussung zwischen Räumen der Außenwelt, wie sie der Film konstituiert und den seelischen Innenräumen der Protagonisten wollen wir in dieser Reihe näher untersuchen.
Dr. med Corinna Wernz


Sonntag 19. März 2017, 17:30 Uhr
Gravity 3D
– USA/GB 2013 – R: Alfonso Cuarón – B: Alfonso Cuarón, Jonás Cuarón, George Clooney – K: Emmanuel Lubezki – M: Steven Price - D: Sandra Bullock, George Clooney – 90 min, OmU.
Einführung und Kommentar: Salek Kutschinski, Mathias Lohmer, Corinna Wernz

Wegen der Zerstörung einer Satellitenstation durch Weltraumschrott gerät eine Wissenschaftlerin (Sandra Bullock) in eine ausweglos erscheinende „Schiffbruchsituation“ im All. Tatkräftig wie auch psychologisch unterstützt vom einzigen überlebenden Astronauten (George Clooney) muss sie in diesem kosmischen Kammerspiel traumatische Erlebnisse überwinden lernen, die sie auf der wie zum Greifen nahen, doch nun so gut wie unerreichbaren Erde hatte zurücklassen wollen. Die mehrfach oscarprämierte visuelle Choreographie vermittelt bsp. mit Hilfe raffinierter Kamerarotationen in allen Achsen den krisenhaften Orientierungsverlust der Protagonistin und veranschaulicht auch auf verhältnismäßig realistische Weise physikalische Bewegungsgesetze, was so nur in der 3D-Projektion voll erfahrbar wird. Die Verbindung einer zum Schluss doch konventionellen Heldengeschichte mit einer ungewöhnlich sinnreichen und spektakulären 3D-Montage macht nachvollziehbar, wie hier ein Arthouse-Avantgardfilm zum Blockbuster werden konnte.


Sonntag 30. April 2017, 17:30 Uhr
Birdman
or (The unexpected Virtue of Ignorance) – USA 2014 - R: Alejandro González Iñárritu - B: Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dilenaris Jr., Armando Bó Jr. - K: Emmanuel Lubezki - M: Antonio Sánchez - D: Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone, Naomi Watts, Merrit Wever, Tabitha Dickinson – 119 min, OmU
Einführung: Matthias Baumgart und Eva Friedrich

Riggan Thomson (Michael Keaton), früherer Darsteller der Fantasyfigur „Birdman“, will mit einer Broadway-Theaterinszenierung endlich als ernsthafter Schauspieler wahrgenommen werden. Er will raus aus den Fesseln des Starruhms. Wir Zuschauer sehen ihn aber – im Wortsinne – meistens drinnen, er hastet durch die Katakomben des Theaters, im übertragenen Sinn auch durch das Labyrinth seines kaum mehr zu ordnenden beruflichen und privaten Lebens. Er laviert zwischen schlechten oder übereitlen Schauspielern, finanziellen Zwängen, der Angst vor vernichtenden Kritiken, mühevoller Fürsorge für seine labile Tochter, zwischen aktueller Geliebter und früherer Ehefrau. Die Kamera folgt ihm auf Schritt und Tritt, Schnitte sind durch raffinierte Digitaltechnik nicht wahrnehmbar. Die klaustrophobische Bildwelt der Innenräume wird verstörend aufgelockert durch von Riggan halluzinierte, ausbruchsartige Schwebe- und Flugvisionen, also durch Fragmente seiner Birdman-Rollenidentität. Virtuos kommentiert Iñárritu mit seinem Wechsel zwischen Innen- und Außenräumen auf bildlicher Ebene psychische Dilemmata von Begrenztheit und Entgrenzung.


Sonntag 21. Mai 2017, 17:30 Uhr
Ultimo tango a Parigi
(Der letzte Tango in Paris) – I/Frk. 1972 – B&R - Bernardo Bertolucci - D: - Maria Schneider, Marlon Brando, Jean-Pierre Léaud - 129 min, OmU
Einführung: Andreas Hamburger und Vivian Pramataroff-Hamburger

Im Post-68er-Klima, die Revolution ist passé, stoßen die junge Jeanne (Maria Schneider) und der verbittert und verzweifelt durch Paris streunende Amerikaner Paul (Marlon Brando) aufeinander. Er ist 45, sie 20. Paul ist gerade Witwer geworden, weil seine Frau Rosa sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, Jeanne heiratet in zwei Wochen den avantgardistischen Filmregisseur Tom (Jean-Pierre Léaud). Ohne sich auch nur nach ihrem Namen zu fragen, beginnen sie eine amour fou in der magischen Zwischenwelt einer leerstehenden Pariser Art Deco-Wohnung. Die Sexualität ist grob, stark und mit einer verzweifelten Intensität, als ob es um Leben und Tod gehe. Die Bildsprache des Films inszeniert den geschlossenen Raum der Wohnung als Bacon-Gemälde in warmem, orangen Halblicht, als regressiven Innenraum. Das Publikum wird verführt zur Teilhabe an einer Flucht in Anonymität, die sich zur reinen Liebe stilisiert – und schließlich scheitert.


Sonntag 18. Juni 2017, 17:00 Uhr
The Age of Innocence
(Zeit der Unschuld) – USA 1993 - R:Martin Scorsese - B: Jay Cocks und Martin Scorsese nach dem gleichnamigen Roman von Edith Wharton - K: Michael Ballhaus – M: Elmer Bernstein - Sch: Thelma Schoonmaker - D: Daniel Day-Lewis, Michelle Pfeiffer, Winona Ryder, Richard E. Grant, Geraldine Chaplin – 140 min, OmU
Einführung: Katharina Leube-Sonnleitner und Irmgard Nagel

New York in den 1870ern. Der aufstrebende und gutaussehende, junge Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis) hat alle Voraussetzungen, ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen, scheitert aber an den Konventionen seiner unnachgiebig „kultivierten“ gesellschaftlichen Klasse, deren Grausamkeit von Scorsese demaskiert wird. Die Melancholie einer großen ungelebten Liebe durchzieht den Film und wird in opulenten Bildern mit sorgfältig gewählten Objekten, entsprechender Musik und grandiosen Schauspielern inszeniert. Fast ausschließlich Innenräume, „ein semiotisches Gefängnis“ (Georg Seesslen) voller Pomp und Plüsch, in denen die Menschen wie eingemauert in das Dekor wirken, reflektieren die Vorgänge im Inneren der Protagonisten. “Mein grausamster Film” Dieses vielzitierte Wort von Scorsese über Zeit der Unschuld, macht klar, dass er keinen grundlegenden Unterschied sieht, welchen Zwängen das Individuum ausgeliefert ist, sei es nun in einer Mafiaorganisation oder der besseren Gesellschaft, am wehrlosesten allerdings durch deren Verinnerlichung.


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