In der von der Akademie und dem Filmmuseum München veranstalteten Reihe Psychoanalyse und Film werden folgende Filme von einer Psychoanalytikerin und/oder einem Psychoanalytiker kommentiert (einschließlich Diskussion mit dem Publikum)

Aktuelles Filmprogramm

Film und Psychoanalyse - Jungs! Aber wie.

Sollte man sie unter Artenschutz stellen? Einst waren sie die Nachwuchsriege hegemonialer Männlichkeit, dann wurden sie in eine vaterlose Gesellschaft geboren, ständig auf der Suche nach ihrer Rolle. Jetzt hören sie öfter, XY sei was latent Toxisches. Sicher ist: Was aus dem kleinen Unterschied wird, unterliegt einer kulturellen Zuschreibung, und die wird nicht zuletzt in der Kunst verhandelt. Müssen Jungs machtvoll sein? Dürfen sie weinen? Und wenn sie Schmerzen kennen, sind sie dann keine Indianer mehr? Von allen Künsten ist das Kino dasjenige, in dem diese Identitätsfragen am ehesten mit den Betroffenen selbst verhandelt werden. Im Kino werden Lebensentwürfe gezeigt, gefühlt, und gleich nach dem Film angeregt diskutiert - oder imitiert. Im Kino werden allzu schlichte Modelle von Identität hinterfragt und ihre Auswirkungen auf den Rest der Welt durchgespielt. Früher hat man die Jungs noch in den Wald geschickt - oder Schlimmeres - um sich auszuprobieren. Jetzt gehen sie ins Lichtspiel - und zwar gemeinsam. Ist doch was.
Andreas Hamburger


Sonntag 03. April 2022, 17:00 Uhr
OH BOY
– Deutschland 2012 – R u. B: Jan Ole Gerster – K: Philipp Kirsamer – D: Tom Schilling, Marc Hosemann - 83 min
Einführung und Diskussion: Andreas Hamburger

 Der Film, der rasch zum Geheimtipp wurde, ist eine Momentaufnahme des Aufwachsens in der verdrängten Hauptstadtgeschichte. In den dröge dahinrollenden Tag des orientierungslosen Studienabbrechers Niko (Tom Schilling) , der eigentlich nur eine Tasse Kaffee will, schiebt sich unterschwellig die Zeit des Nationalsozialismus, die Zeit in der keiner gewesen sein will: als Einfühlungsverweigerung, bemühtes Erinnerungspathos, vor allem aber als Sprachlosigkeit. Erst in der Begegnung mit Friedrich, einem alten Trinker (Michael Gwisdek), der sagt was wirklich her geschehen ist, kann Niko sich selbst und seine vernarbte Umgebung verstehen. Die filmpsychoanalytische Interpretation zeigt, mit welch subtilen filmischen Mitteln diese Irrfahrt auch das Publikum einbezieht.


Sonntag 01. Mai 2022, 17:00 Uhr
Call Me By Your Name
– IT, FR, US, BR 2017 - R: Luca Guadagnino - B: James Ivory, nach dem Roman von André Aciman - M: Sufjan Stevens - K: Sayombhu Mukdeeprom - D: Timothée Chalamet, Armie Hammer, Michael Stuhlbarg, Amira Casar - 133 min
Einführung und Diskussion: Eva Friedrich, Irmgard Nagel

Es dauert eine geraume Zeit, bis aus einem Aufschieben, einer schier unendlichen Zeit ein Jetzt wird mit tiefster Leidenschaft und Nähe zwischen Elio (Timothée Chalamet), dem Sohn des Archäologen Prof. Perlman (Michael Stuhlbarg) und seinem Assistenten Oliver (Armie Hammer). Die leisen und heftigen Gefühle des überreifen Verlangens, der Sehnsucht, der ersten Liebe sind eingefangen in eine Welt symbolhaltiger schöner Bilder eines heißen italienischen Sommers, in kluge Gespräche, zugewandte Beziehungen, Bildung, Musik und Kunst. Wenn dieses Paradies verloren ist und der Schmerz über den Verlust überwältigend wird gibt es hier einen Vater, der fähig ist ihn aufzunehmen. Luca Guadagnino erzählt von Männern (es gibt auch Frauen!), von den Turbulenzen des Erwachsenwerdens eines Jungen, vor allem aber dieser ersten Liebe. Dabei schafft er es zusammen mit seinem Team meisterhaft und ohne kitschig zu werden, uns einzufangen in diese stimmige Welt voller Schönheit und Harmonie, die im Gegensatz steht zur sonst oft kalten Realität. Vielleicht berührt er so stark, weil er unwiderstehlich eigene Erinnerungen, Sehnsüchte, Wünsche erweckt?


Film und Psychoanalyse - Jungs! Aber wie - die Fortsetzung

Kann man die Antihelden der weiteren zwei Filme, die wir ausgewählt haben, noch als Jungs bezeichnen? Unzweifelhaft sind sie der Adoleszenz entwachsen, gehören eher dem von der Entwicklungspsychologie neuerdings als „emerging adulthood“ bezeichneten Übergangsstadium an, das bei nicht wenigen Jungs recht lange anhält, auch in den 50er und 60er Jahren, wie unsere beiden Filme zeigen. Da taucht noch wenig Erwachsensein auf, es geht eher um Befriedigung triebhafter Wünsche. Dass die Krise der Männlichkeit, die Schwierigkeiten der Identitätsbildung und der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben also neuere Phänomene seien, entstanden, seit die selbstverständliche patriarchalische Grundordnung in Frage gestellt wird, kann man so wohl nicht sagen. In all den Filmen spielen die Primärobjekte, sprich Eltern, besonders die Väter, deren Entidealisierung ja die zentrale Aufgabe für Jungs in der Adoleszenz sein soll, weiterhin eine zentrale Rolle und so dürfte es wohl auch im richtigen Leben sein. Unsere rein europäische Filmauswahl zeigt über eine Zeitspanne von über 60 Jahren, wie kunstvoll, kreativ, neugierig, unkonventionell und witzig sich die Filmkünstler in verschiedenen Genres des Themas sich entwickelnder, gefährdeter und auch gefährlicher Männlichkeit annehmen.
Katharina Leube-Sonnleitner


Sonntag 23. Oktober 2022, 17:00 Uhr
I Vitelloni
– (Die Müßiggänger) Italien 1952 – R: Frederico Fellini - B: Frederico Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli - K: Carlo Carlini, Otello Martelli, Luciano Trasatti – M: Nino Rota - D: Franco Fabrizi, Franco Interlenghi, Alberto Sordi, Leonora Ruffo - 100 min, OmU
Einführung und Diskussion: Katharina Leube-Sonnleitner, Matthias Baumgart

 Fünf Freunde im Winter, in ihrer heimatlichen Provinzstadt am Meer: Das sind die „Vitelloni“, halberwachsene Stiere also: Die Bezeichnung mutet angesichts der rund dreißigjährigen Protagonisten eigenartig an, ist aber programmatisch: Denn in ihrem passiven Abhängen und im nur tändelnden Verhältnis zu Frauen sind sie auf der Flucht vor einer erwachsenen Existenz. Erst die ungewollte Schwangerschaft seiner Freundin konfrontiert den ärgsten Weiberhelden unter Ihnen, den schönen Fausto (Franco Fabrizi), mit dem Ernst des Lebens. Die Freunde beobachten und kommentieren das beklommen-spöttelnd, während Fausto kleine und größere Fluchten versucht. Sanft humoristisch, gelegentlich leicht sarkastisch ist der Film inszeniert, durch die winterlich-leere Szenerie und die wunderbare Filmmusik von Nino Rota ist er jedoch auch von tiefer Melancholie durchzogen. Nur der ernste Moraldo (Franco Interlenghi), der Züge eines Alter-Ego von Regisseur Fellini hat, kann sich dieser Welt durch Abwanderung schließlich entziehen. In seinem zweiten Film beginnt Fellini in den noch neorealistischen Handlungsrahmen seine eigene Bildsprache mit subtil traumartigen Einstellungen einzuschreiben, die uns bis heute erreichen und berühren können.


Sonntag 20. November 2022, 17:00 Uhr
Plein Soleil
(Nur die Sonne war Zeuge) – F, I 1960 – RR: René Clement – B: René Clement, Paul Gégauff (nach dem Roman „The talended Mr. Ripley“ von Patricia Highsmith) – K: Henri Decae – M: Nino Rota – D: Alain Delon, Maurice Ronet, Marie Laforet – 112 min, OmU
Einführung und Diskussion: Mathias Lohmer, Corinna Wernz

 Zwei US-amerikanische Jungs Anfang 20 in einem pittoresken Italien der 50er Jahre, zwischen Rom, Neapel und Ischia. Zwei Playboys (den Ausdruck gab es damals noch für diese Lebensweise) spielen savoir vivre mit Booten, Frauen und Luxus - der eine, Philippe (Maurice Ronet) durch seinen Vater, dem er sich entzieht, mit Geldmitteln gut ausgestattet, der andere, Tom (Alain Delon) arm, ein Schnorrer und Hochstapler, von Philipps Vater beauftragt, Philipp zurückzubringen. Sie umspielen sich in schönen, noch ursprünglichen südlichen Orten in einem ambivalent-freundschaftlich-sadomasochistischen Tanz mit homoerotischen Anspielungen, Marge (Philipps on and off Freundin) ist dabei nur Staffage. Das Spiel wird plötzlich ernst, als Tom beschließt, Philippe zu ermorden, um seine Identität anzunehmen und sein reiches Leben führen zu können. Der unbedingte amoralische Willen zum Aufstieg bei Tom trifft auf das arrogante Tändeln mit Zu- und Abwendung seines Rivalen, Neid des Einen trifft auf Bosheit aber auch Naivität des Anderen. Das dunkle Alter Ego der beiden gewinnt.


Und noch einmal die „Jungs“

Jedes Jahrzehnt sucht sich seine Jungs. In unserer Staffel „Jungs - aber wie!“ haben wir bisher mit ganz unterschiedlichen Entwürfen und Epochen heranwachsender Männlichkeit zu tun gehabt - „Oh Boy“, „Call me by your Name“, „I Vitelloni“ und „Plein soleil“. Jetzt, im letzten Drittel der Staffel, sind es zwei besonders schöne Jungs: Alain Delon und Leonardo DiCaprio. Sie stehen im Film vor ganz verschiedenen Aufgaben: im Nachkriegsfilm „Rocco und seine Brüder“ geht es um Rivalität unter Männern, in „Catch Me If You Can“, einem Film des anbrechenden neuen Jahrtausends, der eine Rückblende in die Zeit des Wirtschaftswunders präsentiert, um Hochstapelei. Beiden aber fehlt eine zuverlässige Vaterfigur. So zeigen uns die Film-Jungs immer die Identitätsfragen, vor denen die Jungen unserer eigenen Zeit stehen.
Andreas Hamburger


Sonntag 15. Januar 2023, 17:00 Uhr
Catch me if you can
Catch Me If You Can (Fang mich, wenn du kannst) USA 2002 – R: Steven Spielberg – B: Jeff Nathanson, Frank Abagnale – K: Janusz Kaminski – M: John Willians – D: Leonardo DiCaprio, Tom Hanks, Christopher Walken, Martin Sheen, Amy Adams – 135 Min., OmU
Einführung und Diskussion: Corinna Wernz und Eva Friedrich

 Der frühere Hochstapler F. W. Abagnale schreibt 2000 ein Buch über sein aufregendes Leben, vielleicht ein wenig hochgestapelt. Er darf am Drehbuch zu Steven Spielbergs Verfilmung mitarbeiten. Frank W. Abignale jr. (Leonardo di Caprio) ist gerade mal 16 Jahre alt als er im Konflikt, sich zwischen den sich trennenden Eltern entscheiden zu müssen, davon läuft. Vom Vater (Christopher Walken) hat er sich abgeschaut wie man charmant angibt und betrügt. Doch während dieser als Geschäftsmann und in seiner Ehe erfolglos ist, perfektioniert sich Frank - verführerisch, schön und pfiffig - zum jüngsten Hochstapler der USA. Der andere Vater als Vertreter von Ordnung und Regeln, personifiziert im FBI- Agenten Carl Hanratty (Tom Hanks), will ihm seine Streiche nicht durchgehen lassen. So beginnt eine 6jährige Jagd, rasant, unterhaltsam, witzig, mit perfektem filmischen und musikalischen Knowhow erzählt. Spielberg versteht es die Zuschauer mit Heiterkeit hereinzuholen und gleichwohl die Einsamkeit, die krasse Identitätssuche und die große Vatersehnsucht spürbar zu machen. Am Ende wird Frank gefasst, aber das ist natürlich noch nicht das Ende.


Sonntag 18. Februar 2023, 17:00 Uhr
Rocco e i suoi fratelli
(Rocco und seine Brüder) - Italien 1960 - R: Luchino Visconti - B: Suso Cecchi D´Amico - K: Giuseppe Rotunno - M: Nino Rota - D: Alain Delon, Renato Salvatori, Annie Girardot, Claudia Cardinale, Katina Paxinou, Rocco Vidolazzi - 179 min. Om engl.U
Einführung und Diskussion: Salek Kutschinski und Vivian Pramataroff-Hamburger

 „Africa!“ So kommentiert kopfschüttelnd eine Nachbarin den Einzug einer sizilianischen Familie in einen Mailänder Wohnblock. In beklemmenden Schwarzweißbildern des Altmeisters Rotunno und stimmungsvoll untermalt durch eine von Nino Rotas besten Partituren erzählt Visconti die Geschichte von fünf Brüdern, die unter der Fuchtel einer alles dominieren wollenden verwitweten Mutter (Katina Paxinou) stehen und unter widrigen Bedingungen den familiären Lebensunterhalt bestreiten müssen. Die komplexen Beziehungen zwischen den Brüdern sind polar geprägt durch Solidarität und Egoismus, Bewunderung und Rivalität/Neid, Liebe und Hass, dies nicht nur im Kontext der Beziehung einer Prostituierten (grandios: Annie Girardot) zu gleich zwei der Brüder (Alain Delon & Renato Salvatori). In seiner archaischen Wucht erscheint der lange wegen „Unmoral“ um 15 Minuten zensierte und jetzt restauriert zu sehende Film zeitlos.

Alle Filme werden im Filmmuseum München, St.Jakobs-Platz 1 gezeigt.

© Münchner Filmgruppe