Frühere Filmvorführungen

Thema - Geschwister

Die hohe Bedeutung der Geschwisterbeziehung wurde zu allen Zeiten in den unterschiedlichen Ausdrucksformen der Kultur anerkannt: von Homer, der die grundlegende Tragödie des Trojanischen Krieges als Feldzug anlegt, in dem ein Mann den Raub der Frau seines Bruders rächt; über alttestamentarische Geschichten vom Brudermord des Kain an Abel oder von Joseph und seinen Brüdern, in der grundlegende Menschheitsfragen wie Gerechtigkeit, Schuld, Sühne und Vergebung, aber auch psychologische Themen wie Liebe und Hass, generationenübergreifende Traumatisierung und Autonomieentwicklung etc, meisterhaft beschrieben werden; bis hin zur Entstehung neuer sozialer Interaktionsformen am Beginn der Moderne durch den Ruf nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution.
Wie aber können sich Geschwisterbeziehungen, die zu Beginn von Neid und Rivalität geprägt sind, und auch in der Adoleszenz oft noch einmal durch unerwartete Kämpfe modifiziert werden, zu einer „ brüderlichen“, d.h. solidarischen Beziehung weiterentwickeln? Hierbei spielen sowohl das Triebgeschehen, d.h. die um die horizontale Ebene der Konfliktregulierung unter den Geschwistern erweiterte ödipale Konstellation, als auch multiple Identifizierungsprozesse und die Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen eine große Rolle.
Der Film, die „ neue“ eigenständige Kunstform des 20. Jahrhunderts, hat diese großen Fragen zu der Beziehung, die bei vielen Menschen die längste und flexibelste ihres Lebens darstellt , selbstverständlich innerhalb seiner gesamten Entwicklung immer wieder dargestellt: in all ihrer Ambivalenz, die bedingungslose Liebe und fraglose Unterstützung ebenso enthalten kann wie mörderischen Hass. In welcher Konstellation auch immer: der Geschwisterbeziehung entkommen wir nicht. Und das zeigen uns auch die vier großartigen Filme zum Thema, die wir ausgewählt haben und unter psychoanalytischen Aspekten kommentieren und mit dem Publikum diskutieren möchten.
Katharina Leube-Sonnleitner


Sonntag 27. Oktober 2013, 17:30 Uhr
IL Y A LONGTEMPS QUE JE T'AIME
(So viele Jahre liebe ich Dich) - Frk. 2008 – R und B: Philippe Claudel – M: Jean-Louis Aubert - D: Kristin Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Frédéric Pierro - 117 min, OmU
Kommentar: Katharina Leube, Heidi Spanl

Der erfolgreiche französische Schriftsteller Philippe Claudel legte als Autor mit diesem Film 2008 sein Regiedebüt vor, in dem er seinen psychologischen Realismus, Menschen in extremen Lebenssituationen oder unter den Bedingungen besonderer historischer Bedingungen zu zeigen, nochmals variiert. Zwei Schwestern begegnen sich nach 15 Jahren wieder. Spannend wie in einem Krimi entschlüsseln sich die Geheimnisse der beiden. In einer ruhigen fast zärtlichen Form nimmt uns die Kamera in die unterschiedlichen Schwesternwelten mit, verknüpft mit einer behutsamen Wiederannäherung, in der man das Besondere der Geschwisterbeziehung, die bedingungslose Solidarität und starke Bindung durch gemeinsam durchlebte Erfahrungen, aber auch die blitzartigen Gefährdungen hinter Konventionalität und Pflichtgefühl erahnen kann. Melodramatische Momente spiegeln nicht nur die Außenwelt wider, sondern öffnen einen Zugang zu einem reichhaltigen, vielschichtigem inneren Erleben. Gleichzeitig erleben wir die zutiefst berührende und von Kristin Scott Thomas meisterhaft gespielte Rückkehr einer traumatisierten Frau in die menschliche Gemeinschaft.


Sonntag 24. November 2013, 17:30 Uhr
EAST OF EDEN
- USA 1955 – R: Elia Kazan – B: Paul Osborn – K: Ted D. McCord – M: Leonard Rosenman – D: Raymond Massey, James Dean, Julie Harris, Richard Davalos – 115 min, OmU
Kommentar: Matthias Baumgart, Eva Friedrich

Der Farmer Adam Trask (Raymond Massey) hat zwei ungleiche Söhne, den linkisch-getriebenen Cal (James Dean) und den konventionellen Aron (Richard Davalos). Die Handlung wird in Gang gesetzt durch das Ringen der Söhne um die Liebe des vermeintlichen Witwers, wobei Aron stets die besseren Karten zu haben scheint. Dem Vater ist aber in Wirklichkeit seine Frau in die nächste Stadt davongelaufen, wo sie ein Bordell führt. Cal entdeckt dieses Familiengeheimnis, was seine im Film ohnehin angelegte Nähe zum Abgründigen noch verstärkt. Ausgerechnet mit dem Geld der verleugneten Mutter startet Cal heimlich ein Unternehmen, das dem in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Vater helfen soll. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von John Steinbeck entwickelt sich zu einem dichten, großartig bebilderten Geflecht aus sichtbaren und unsichtbaren Loyalitäten, aus Rivalität, Schuld und Vergebung, aus „gutem“ und „schlechtem“ Kapitalismus, virtuos eingebunden in die amerikanische Geschichte. Scheinbar nebenbei sehen wir in der Person von James Dean einen ganz neuen Männertyp. Der Film gibt damit nicht nur Einblicke in die Erzählzeit um den ersten Weltkrieg, sondern auch in die amerikanische Gegenwart zur Zeit seiner Entstehung.


Sonntag, 22. Dezember 2013, 17:00 Uhr
RAIN MAN 
- USA 1988 – R: Barry Levinson – B: Barry Morrow, Ronald Bass – K: John Seale –M: Hans Zimmer – D: Dustin Hoffman, Tom Cruise – 133 min, OF
Kommentar: Vivian Pramataroff-Hamburger, Andreas Hamburger

Der Autohändler Charlie Babbitt erfährt bei der Testamentseröffnung, dass sein Vater ihm nur den legendären 49er Buick Roadmaster vererbt hat, über den er sich einst mit ihm zerstritten hatte – das Vermögen aber einem Unbekannten. Er sucht ihn und entdeckt seinen verleugneten autistischen Bruder Raymond, in dem er die ‚Rain Man’-Phantasiefigur seiner Kindheit wiedererkennt. Nun beginnt ein Roadmovie, eigentlich ein Roadmaster-Movie, das mit viel Witz und Einfühlung die Reise der beiden ungleichen Brüder nach Las Vegas erzählt, wo Raymonds Spezialbegabung ihnen zu unverhofftem Glück verhilft. Ein Film über Egoismus und Autismus, über den gescheiterten ödipalen Konflikt und die magische Allmachtsphantasie, die wie zwei Seiten einer Medaille von dem Brüderpaar repräsentiert werden.


Sonntag 19.Januar 2014, 17:30 Uhr
A STREETCAR NAMEN DESIRE
(Endstation Sehnsucht) - USA 1951 – R: Elia Kazan – D: Oscar Saul, Tennessee Williams – K: Harry Stradling Sr. – M: Alex North – D: Marlon Brando, Vivien Leigh, Kim Hunter, Karl Malden – 120 min, OF
Kommentar: Mathias Lohmer, Corinna Wernz

Nicht nur ein Südstaaten-Drama, ein Klassen-Drama, ein Geschlechter-Drama, das in Verrücktheit mündet, sondern auch ein Geschwister-Drama erleben wir in Kazans berühmter Verfilmung des Skandalstückes von Tennessee Williams. Nach dem Verlust ihres Familienbesitzes „Belle Reve“ (schöner Traum) invadiert die verzweifelte und zugleich herablassende Blanche die Ehe ihrer Schwester Stella mit dem sinnlichen Proleten Kowalski, der Stella animalisch in Bann hält. In diesem Dreiecks-Drama vertreten die beiden Schwestern entgegengesetzte Pole gegenüber der gesellschaftlichen Veränderung, aber auch gegenüber der sexuellen Präsenz Kowalskis, also dem Umgang mit „Realitäten“.


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