Frühere Filmvorführungen

Thema: Wirklichkeiten

Der Titel der vierten Folge der Themenreihe „Film und Psychoanalyse“ benennt eine Gemeinsamkeit von Film und Psychoanalyse: In beiden Bereichen kann von der Wirklichkeit nur im Plural geredet werden. Im Kino ist die fiktive Wirklichkeit der Protagonisten eine andere als die der Zuschauer. Der Regisseur lässt das Publikum mehr oder weniger wissen als die Filmfiguren und spielt so mit Kontrasten zwischen den vom Zuschauer erlebten und den dargestellten Emotionen. In der klassischen Psychoanalyse wird analog dazu unterschieden zwischen der psychischen Wirklichkeit der Patienten und der sie umgebenden äußeren Wirklichkeit. Der Psychoanalytiker versucht den Patienten mit dessen unbewusster innerer Wirklichkeit vertraut zu machen, die ihn von einem befriedigenden Umgang mit der Außenwelt abhält. Aber wie Vieles im gesellschaftlichen Leben, so war vielleicht auch Filmemachen und Psychoanalysieren früher einfacher. In unserer postmodernen, partiell virtuellen Welt wird die ständige Erzeugung und Revision von Wirklichkeiten ein immer dominanteres, teilweise überwältigendes Thema. Von der Kriegsberichtserstattung bis zur Doku-Soap wird das Geflecht von Dokumentation und Fiktionalisierung immer unentwirrbarer. Auch in der psychoanalytischen Diskussion ist derzeit viel davon die Rede, wie in Therapien Realitäten gemeinsam erschaffen, also immer wieder verhandelt werden müssen. Auch Psychoanalytiker müssen also ihren Weg im Dschungel der Beziehungswirklichkeiten immer wieder neu finden. Der klinische Alltag zeigt zudem, wie mühsam es im Wirrwar heutiger Identifikationsangebote ist, eine eigene Identität und Realität zu schaffen. mbitionierte Filmemacher haben dieses Thema vielfach in Szene gesetzt. Ihnen reicht es oft nicht, einen dargestellten Plot mehr oder weniger eindeutig zu lösen. Sie thematisieren in spannenden, vielschichtigen Handlungsnetzen auch formal die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Innen- und Außenwelt, von verschiedenen subjektiven Wahrheiten, von inkompatiblen Lebensentwürfen und –schicksalen. Die ausgewählten Filme werden einmal mehr zeigen, wie Regisseure uns Zuschauer als „Visu-Psychoanalytiker“ mit kollektiven, aber individuell erlebten konflikthaften Themen konfrontieren. Wie unsere Innenwelt auf die Filme reagiert, das können wir wahrnehmen und uns darüber austauschen. Die gemeinsamen Diskussionen nach den Vorführungen bieten hierfür Raum.
Dipl.-Psych. Matthias Baumgart, Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie


Mittwoch 17. Februar 2010, 21.00 Uhr
MEMENTO
– USA 2000 – Christopher Nolan – 109 min, OmU
Einführung und Kommentar: Eva Friedrich und Katharina Leube-Sonnleitner

Der Tote auf dem Polaroidfoto verschwindet, der Entwicklungsprozess des Bildes kehrt sich um, das Blitzlicht leuchtet auf, das Blut fließt rückwärts, die Kugeln verschwinden im Revolverlauf und plötzlich steht der soeben Getötete wieder aufrecht . Er schreit angesichts dessen, was gleich passieren wird. Durch seine raffinierte Zeitstruktur zieht Christopher Nolans „Memento“ den Betrachter in die Erlebniswelt von Leonard Shelby, der seit dem Mord an seiner Frau sein Kurzzeitgedächtnis verloren hat. Er ist verloren in der immer wieder verschwindenden Erinnerung und kämpft gegen das Verlorensein an: mit beschrifteten Polaroidfotos, mit Notizen, die er systematisch auf Zettel schreibt und sich aufklebt und schließlich auf die Haut tätowiert, um sie nicht mehr auslöschen zu können. Zäh versucht er, den Mord zu rächen – aber klar wird nichts. Ein Kampf gegen und um die entschwindende Wirklichkeit, ein tiefsinniger Thriller.


Mittwoch 20. Januar 2010, 21.00 Uhr
Lola rennt
– Deutschland 1998 – Tom Tykwer – 81 min, OmU
Einführung und Kommentar: Heidi Spanl

Ein Sommertag in Berlin, eine kurze Zeitspanne von 20 Minuten entscheidet über Lieben, Leben und Tod. Der Augenblick gewinnt an Bedeutung. Der Tod wird überwunden, ein vertrautes Zeit-Raum-Kontinuum löst sich auf. Lola bekommt eine zweite und dritte Chance. Eine Comicfigur eröffnet ein neues Narrativ, Zufälligkeiten setzten neue Akzente, schwarz-weiß Bilder vermitteln eine weitere Lebensgeschichte. Die verschiedenen Wirklichkeiten sind wie ein Sog, der Zuschauer kann sich nicht entziehen. Die Frage, welche von Lolas Lebens-läufen nun wahr ist, führt in die „Chaostheorie“ und deren wichtiges Kriterium „sensible Abhängigkeiten in den Anfangsbedingungen“. Lola versucht Tatsachen und Fakten, die wie Naturgesetze erscheinen, zu überwinden. Sie rennt.


Mittwoch 16. Dezember 2009, 21.00 Uhr
eXistenZ)
- Can/GB 1999 - David Cronenberg – 93 min, OmU
Einführung und Kommentar: Matthias Baumgart

Die Computerspieldesignerin Allegra Geller präsentiert ihr neues Computerspiel, das mittels plazentaförmiger Hardware über eine Art Nabelschnur mit dem Nervensystem der Teilnehmer verbunden wird: Eine Neurotechnik ist zur zweiten Natur geworden. Die Designerin wird von Computerspielgegnern angeschossen. Eine Krimihandlung ist zwar angedeutet, aber die Frage danach, wer die Täter waren, treibt die Geschichte nur scheinbar voran. Protagonisten und Zuschauer verlaufen sich stattdessen zunehmend in den verschachtelten Spiel- und Spiel-im-Spiel-Ebenen des Plots. Auf aktuelle und oft skurril humorvolle Weise konfrontiert uns Cronenbergs Film mit den Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Konsequenterweise verweigert er sich einer eindeutigen Lösung: Ob und wo es überhaupt eine Wirklichkeit gibt, in die man aus den virtuellen Welten zurückkehren könnte, das wird bis zum Schluss immer unentscheidbarer.


Sonntag 22. November 2009, 17.00 Uhr
Rashomon (Das Lustwäldchen)
– Japan 1950 - Akira Kurosawa – 84 min, OmU
Einführung und Kommentar: Andreas Hamburger und Salek Kutschinski

Rashomon, das verfallene Tempeltor der alten Kaiserstadt Kyoto. Drei Männer suchen Schutz vor dem strömenden Regen und erzählen sich ein Verbrechen, das soeben vor Gericht verhandelt wurde. Aber die Geschichten widersprechen sich. Eine Frau wurde vom Straßenräuber Tajomaru vergewaltigt, soviel steht fest. Auch dass ihr Mann, ein Samurai, getötet wurde. Aber wer ist der Mörder? Der Räuber? Die Frau? Der Samurai selbst? Alle Beteiligten bezichtigen sich selbst, mit der Ausnahme des einzigen unbeteiligten Tatzeugen, des Holzfällers vom Rashomon. Der allerdings ist der einzige, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass er lügt.Was geschehen ist, wissen wir nicht. Nur was berichtet wird, können wir hören. Und sehen. Selbst die Kamera lügt, wenn sie willfährig die widersprüchlichen Berichte illustriert. Der Film, der 1951 den Goldenen Löwen und einen Oscar errang und seinen Regisseur Akira Kurosawa im Westen bekannt machte, ist zum Synonym der konstruierten Erinnerung geworden; ein zentrales Thema auch der Psychoanalyse. "Das Gedächtnis ist nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz" (Walter Benjamin).


Mittwoch 21. Oktober 2009, 21.00 Uhr
Die Truman Show
- USA 1998 – Peter Weir– 99 min, OmU
Einführung und Kommentar: Corinna Wernz, Mathias Lohmer

Die zentrale Figur des Films ist der Versicherungsvertreter Truman Burbank, der – ohne davon zu wissen –Hauptdarsteller einer Fernsehserie ist, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Leben eines Menschen von Geburt an zu dokumentieren und live im Fernsehen zu präsentieren. Zu diesem Zweck hat der Produzent der Serie Truman als Baby von seiner Firma adoptieren lassen und eigens Seahaven, eine von Wasser umgebene Küstenstadt unter einer riesigen Kuppel bauen lassen, eine Art 1950er Jahre Spießer-Idylle mit simuliertem Wetter und Gestirnen. Erst nach über 29 Jahren wird Truman langsam misstrauisch, als versehentlich ein Scheinwerfer, der einen Stern darstellen sollte, direkt vor seiner Nase zu Boden fällt. Truman versucht, da er sich nun zunehmend verfolgt fühlt, aus dieser Welt, deren künstlichen Charakter er mehr und mehr erkennt, auszubrechen. Der Film ist ein Vorgriff auf die erst danach entstandenen Reality Shows und zeigt, wie die klaren Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen und welche Irritationen dies für unser Identitätsgefühl bedeutet.


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